SCHEISSKULTUR - DIE HEILIGE SCHEISSE

Friedensreich Hundertwasser


Die Vegetation hat Jahrmillionen gebraucht,
um die Schleimnis, die Giftstoffe zuzudecken
mit einer Humusschicht, einer Vegetationsschicht,
einer Sauerstoffschichte, damit der Mensch auf Erden leben kann.

Und dieser undankbare Mensch holt eben diese
mit langwieriger kosmischer Mühe zugedeckte Schleimnis
und eben diese Giftstoffe wieder an die Oberfläche.

So wird durch die Untat des verantwortungslosen Menschen
das Ende der Welt zum Anfang aller Zeiten.
Wir begehen Selbstmord.
Unsere Städte sind Krebsgeschwüre.
Von oben sieht man das genau.

Wir essen nicht das, was bei uns wächst,
wir holen Essen von weit her, aus Afrika, Amerika, China und Neuseeland.
Die Scheiße behalten wir nicht.
Unser Unrat, unser Abfall wird weit weggeschwemmt.
Wir vergiften damit Flüsse, Seen und Meere,
oder wir transportieren sie
in hochkomplizierte teure Kläranlagen,
selten in zentralisierte Kompostierfabriken,
oder aber unser Abfall wird vernichtet.
Die Scheiße kommt nie auf unsere Felder zurück,
auch nie dorthin, wo das Essen herkommt.

DER KREISLAUF VOM ESSEN ZUR SCHEISSE FUNKTIONIERT.
DER KREISLAUF VON DER SCHEISSE ZUM ESSEN IST UNTERBROCHEN.

Wir machen uns einen falschen Begriff über unseren Abfall.
Jedesmal, wenn wir die Wasserspülung betätigen, im Glauben,
eine hygienische Handlung zu vollziehen,
verstoßen wir gegen kosmische Gesetze,
denn in Wahrheit ist es eine gottlose Tat,
eine frevelhafte Geste des Todes.

Wenn wir auf die Toilette gehen,
von innen zusperren und unsere Scheiße wegspülen,
ziehen wir einen Schlußstrich.
Warum schämen wir uns?
Wovor haben wir Angst?
Was mit unserer Scheiße nachher geschieht,
verdrängen wir wie den Tod.
Das Klosettloch erscheint uns wie das Tor in den Tod,
nur rasch weg davon, nur schnell vergessen die Fäulnis und Verwesung.
Dabei ist es gerade umgekehrt. Mit der Scheiße beginnt erst das Leben.

DIE SCHEISSE IST VIEL WICHTIGER ALS DAS ESSEN.
Das Essen erhält nur eine Menschheit,
die sich massenweise vermehrt,
an Qualität sich vermindert und eine Todesgefahr für die Erde geworden ist,
eine Todesgefahr für die Vegetation, die Tierwelt, das Wasser,
die Luft, die Humusschicht.

Scheiße aber ist der Baustein unserer Wiederauferstehung.

Seit der Mensch denken kann, versucht er,
unsterblich zu sein.
Der Mensch will seine Seele haben.
DIE SCHEISSE IST UNSERE SEELE.
DURCH DIE SCHEISSE KÖNNEN WIR ÜBERLEBEN.
DURCH DIE SCHEISSE WERDEN WIR UNSTERBLICH.

Warum haben wir Angst vor dem Tod?
Wer eine Humustoilette benützt,
hat keine Angst vor dem Tod,
denn unsere Scheiße macht zukünftiges Leben,
macht unsere Wiedergeburt möglich.

WENN WIR UNSERE SCHEISSE NICHT SCHÄTZEN
UND IN HUMUS UMWANDELN ZU EHREN GOTTES UND DER WELT,
VERLIEREN WIR UNSERE BERECHTIGUNG,
AUF DIESER ERDE ANWESEND SEIN ZU DÜRFEN.

IM NAMEN FALSCHER HYGIENISCHER GESETZE
VERLIEREN WIR UNSERE KOSMISCHE SUBSTANZ,
VERLIEREN WIR UNSERE WIEDERGEBURT.
SCHMUTZ IST LEBEN.
STERILE SAUBERKEIT IST TOD.
Du sollst nicht töten,
doch wir sterilisieren alles Leben mit Gift und Beton.
Das ist Mord.

Der Mensch ist nur ein Rohr.
Auf der einen Seite gibt er Dinge hinein,
auf der anderen kommen sie verdaut heraus.
Der Mund ist vorne, der After hinten. Warum?
Umgekehrt sollte es sein.
Wieso ist speisen positiv?
Wieso ist Scheiße negativ?

Was aus uns herauskommt, ist kein Abfall,
sondern der Baustein der Welt,
unser Gold, unser Blut.
Wir verbluten, unsere Zivilisation verblutet,
unsere Erde verblutet
durch die wahnwitzige Unterbrechung des Kreislaufes.
Wer immer zur Ader läßt, immer nur Blut verliert
und nicht durch neues ersetzt, der verblutet.
Freud hatte recht, als er in der Traumdeutung sagte:
Scheiße ist synonym für Gold.
Daß es nicht nur ein Traum ist, sondern Wirklichkeit,
müssen wir jetzt feststellen.
Als Pasolini in einem Film Schauspieler Scheiße essen ließ,
war das ein Symbol des Kreislaufschließens,
ein verzweifeltes Beschleunigen-Wollen.

Dieselbe Liebe, dieselbe Zeit und Sorgfalt
muß aufgewendet werden für das, was „hinten“ herauskommt,
wie für das, was „vorne“ hineinkommt.
Dieselbe Zeremonie wie beim Speisen,
mit Tischdecken, Messer, Gabel, Löffel,
chinesischen Eßstäbchen, Silberbesteck und Kerzenlicht.

WIR HABEN TISCHGEBETE VOR UND NACH DEM ESSEN
BEIM SCHEISSEN BETET NIEMAND.
WIR DANKEN GOTT FÜR UNSER TÄGLICH BROT,
DAS AUS DER ERDE KOMMT,
WIR BETEN ABER NICHT,
AUF DASS SICH UNSERE SCHEISSE WIEDER UMWANDLE.

ABFÄLLE SIND SCHÖN.
DAS SORTIEREN UND WIEDEREINGLIEDERN
DER ABFÄLLE IST EINE FROHE TÄTIGKEIT.

Diese Tätigkeit spielt sich nicht in Kellern und Hinterhöfen,
auf Miststätten, Toiletten und Aborten ab,
sondern dort, wo wir leben,
wo Licht und Sonne ist,
im Wohnzimmer, in unserem Prunkraum.

Es gibt keine Abfälle.
Abfälle existieren nicht.

Die Humustoilette ist ein Statussymbol.

WIR HABEN DAS PRIVILEG, ZEUGE ZU SEIN,
WIE SICH MIT HILFE UNSERER WEISHEIT
UNSER EIGENER ABFALL,
UNSERE EIGENE SCHEISSE IN HUMUS UMWANDELT,
SO WIE DER BAUM WÄCHST UND DIE ERNTE REIFT.
BEI UNS ZU HAUSE, ALS WÄR’S UNSER EIGENER SOHN.

HOMO - HUMUS - HUMANITAS,
drei Schicksalswörter gleichen Ursprungs.
Humus ist das wahre schwarze Gold.
Humus hat einen guten Geruch.
Humusduft ist heiliger und Gott näher als der Geruch von Weihrauch.
Wer nach dem Regen im Wald spazierengeht, kennt diesen Geruch.
Natürlich ist es etwas Ungeheuerliches,
wenn der Abfallkübel in den Mittelpunkt unserer Wohnung kommt
und die Humustoilette auf dem schönsten Platz zum Ehrensitz wird.
Das ist jedoch genau die Kehrtwendung,
die unsere Gesellschaft, unsere Zivilisation jetzt nehmen muß,
wenn sie überleben will.

Der Humusgeruch ist der Geruch Gottes,
der Geruch der Wiederauferstehung,
der Geruch der Unsterblichkeit.

 

Verfasst 1979/1980 in Algajola, Venedig und Neuseeland, verlesen als Manifest u. a. anlässlich der „Hundertwasser-Weltwanderausstellung“ im Seedamm-Kulturzentrum, Pfäffikon/Schweiz, 1. September 1979.

Publiziert in:

Seedamm-Kulturzentrum Bulletin 7, Pfäffikon/Schweiz 1979, S. 19

Kataloge zur Welt-Wanderausstellung 1975–1987: Englische Ausgabe: London, 1983. Deutsche Ausgabe: Köln, 1980; Wien, Graz, 1981

galerie des arts revue mensuelle, Nr. 201, April 1980, Paris, S. 8/9 (französisch)

Sport Konkret. Die andere Sportzeitung für Freizeit und Erziehung. Innsbruck, Nr. 4/5 Doppelnummer/Herbst 1980, S. 16-17

Forum. hrsg. von Günther Nenning. Wien, Sept./Okt. 1980, Nr. 321, S. 12 -15

Schurian, Walter (Hg.): Hundertwasser – Schöne Wege, Gedanken über Kunst und Leben. München: Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv) 1983, S. 86-88 und Ausgabe 2004 (München, Langen Müller Verlag), S. 102-103

Rand, Harry: Friedensreich Hundertwasser. Köln: Taschen 1991, S. 177

Connection special 24. Was uns nährt: Essen, Trinken, Atmen. hrsg. von Sugata W. Schneider. Niedertaufkirchen/Deutschland, Nr. 1/95, S. 50-51

Schmied, Wieland (Hg.): Hundertwasser 1928–2000, Catalogue Raisonné / Werkverzeichnis. Vol. II: Fürst, Andrea Christa: Catalogue Raisonné / Werkverzeichnis. Köln: Taschen 2002, S. 949-952 (Deutsch und Englisch)

arclos! Pressespiegel und Reflektionen zu Architektur, Kultur und Planung. Kassel/Deutschland, Dezember 2006, S. 3

Hundertwasser. New York: Parkstone Press International 2008, S. 208-211

Sammelmappe für den Hundertwasser-Pfad, Fernwärme Wien, Wien, 2009

Scheub, Ute / Pieplow, Haiko / Schmidt Hans-Peter, Terra Preta – Die schwarze Revolution aus dem Regenwald, München, 2013, S. 193-197

Kultur und Politik, Zeitschrift für ökologische, soziale und wirtschaftliche Zusammenhänge, Nr. 4, 2014, Meilen/Schweiz, S. 25

Regentag-Wassergläser für das Leben, Rutesheim: Bernd Wörner Druckerei und Verlag 2011, S. 45-51

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