DIE SPIRALE
Die Spirale ist das Symbol des Lebens und des Todes. Die Spirale liegt genau dort, wo die leblose Materie sich in Leben umwandelt. Es ist meine Überzeugung, und ich glaube, es ist auch religiös verankert, und auch Wissenschaftler können es bestätigen, daß das Leben irgendwie einmal beginnen muß und man sich aus der leblosen Masse entwickelt hat, und das geschieht in Form einer Spirale.
Ich bin zum Beispiel davon überzeugt, daß der Schöpfungsakt sich in Spiralform vollzogen hat. Es heißt doch in der Bibel, zuerst war nur lebloses Gestein, und dann kam langsam das Leben. Ich glaube, der Akt des Lebeneinhauchens in eine tote Materie vollzieht sich in Spiralform. Wenn man die niedrigen und höheren Lebewesen beobachtet, wird man immer wieder auf die Spiralform stoßen. Die fernen Sterne bilden sich in Spiralformationen, auch die Moleküle. Unser ganzes Leben geht in Spiralen vor sich.
Unsere Erde beschreibt den Lauf der Spirale, das heißt also, wir gehen im Kreis, aber wir kommen nie wieder an den Punkt zurück, der Kreis schließt sich nicht, wir kommen nur in die Nähe des Punktes, wo wir gewesen sind. Das ist typisch für eine Spirale, daß es ein scheinbarer Kreis ist, der sich nicht schließt.
Natürlich hat man die Spirale im Laufe der Zeit falsch aufgefaßt, man hat die Spirale zu sehr stilisiert, so daß sie dekorativ wurde, oder man hat eine Spirale zu sehr stilisiert, daß sie eine geometrische Spirale wurde.
Man kann eine Spirale auch geometrisch zeichnen, mit genauen Abständen zwischen den Kreisen, aber das ist eine tote Spirale, denn alles, was sterile Geometrie ist, ist tot.
Die Spirale, wie sie mir vorschwebt, ist eine vegetative Spirale, die Ausbuchtungen hat, wo die Linien dicker und dünner werden, so ähnlich wie ein Schnitt durch einen Baum, mit einem Unterschied, daß es keine Kreise sind, die ineinanderliegen, sondern daß es eben eine Spirale ist.
Man kann sehr lange über die Spirale sprechen, und es gibt da auch noch andere Dinge, zum Beispiel ist es von Bedeutung, ob die Spirale nach rechts oder links verläuft vom Zentrum weg. Hakenkreuz und buddhistische Zeichen drehen sich nach rechts. Die Bedeutung kann ich nicht erklären.
Wenn sich eine Spirale von außen nach innen entgegengesetzt dem Uhrzeiger dreht, ist es ein guter Tod; wenn sie sich nach innen im Uhrzeigersinn dreht, ist es ein schlechter Tod.
Wenn sie sich nach außen im Uhrzeigersinn dreht, ist es eine schlechte Geburt, wenn sie sich nach außen entgegengesetzt dem Uhrzeiger dreht, ist es eine gute Geburt.
Auf der südlichen Hemisphäre ist es umgekehrt.
Auf der nördlichen Hemisphäre dreht sich ein Wasserstrudel andersherum als auf der südlichen. Auch in einem Waschbecken.
Die Kristalle sind keine geometrischen Gebilde, wie man bisher vermutete, sondern sie bauen sich in Spiralform auf, und zwar in der Art von Wendeltreppen. Wenn man die Oberfläche des Kristalls mikroskopisch betrachtet, erkennt man ganz deutlich die Wendeltreppenstufen.
Die Spirale bedeutet Leben und Tod nach allen Richtungen. Nach außen läuft sie in die Geburt, ins Leben und anschließend durch ein sich scheinbar Auflösen ins zu Große, in außerirdische, nicht mehr meßbare Bereiche.
Nach innen kondensiert sie sich durch Konzentration zum Leben und wird anschließend in unendlich kleinen Regionen wieder etwas, was wir als Tod bezeichnen, weil es sich unserer messenden Wahrnehmung entzieht.
Meine Spirale wächst und stirbt vegetativ, das heißt, die Spiralbahnen verlaufen ähnlich wie die Mäander der Flüsse nach dem Gesetz des Wachstums der Pflanzen. Ich tue dem Ablauf keinen Zwang an, sondern lasse mich führen. Dadurch kann ich keine Fehler machen.
Geschrieben in Wien im Mai/November 1974.
Publiziert in:
Katalog zur Ausstellung im Haus der Kunst, München 1975. Gruener Janura AG: Glarus/Schweiz 1975, S. 132-134
Kataloge zur Welt-Wanderausstellung 1975–1987: Französische Ausgabe: Paris, Luxemburg, Marseille, Kairo, 1975; Kopenhagen, Dakar, 1976; Montreal, Brüssel, 1978. Englische Ausgabe: Tel Aviv, Reykjavik, 1976; Cape Town, Pretoria, Rio de Janeiro, São Paulo, Brasilia, Caracas, 1977; Mexiko City, Toronto, 1978; Rom, Høvikodden, 1980; Helsinki, 1981; London, 1983. Deutsche Ausgabe: Warschau, 1976; Pfäffikon (Schweiz), 1979; Köln, 1980; Wien, Graz, 1981. Japanische / Englische Ausgabe: Tokyo, 1977.
Österreicher, die der Welt gehören. hrsg. von Mobil Oil Austria AG, Wien. Brüder Rosenbaum Verlag: Wien 1979, S. 92
Schurian, Walter (Hg.): Hundertwasser – Schöne Wege, Gedanken über Kunst und Leben. Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv): München 1983, S. 65-67 und Ausgabe 2004 (Langen Müller Verlag, München), S. 80-81
Schmied, Wieland (Hg.): Hundertwasser 1928–2000, Catalogue Raisonné / Werkverzeichnis. Vol. II: Fürst, Andrea Christa: Catalogue Raisonné / Werkverzeichnis. Taschen: Köln 2002, S. 27-28 (Deutsch und Englisch)
Weber, C. Sylvia (Hg.): La raccolta dei sogni, Katalog zur Ausstellung im Art Forum Würth, Capena (Rom). Swiridoff: Künzelsau 2008, S. 48-53 (Italienisch, Deutsch und Englisch)
Restany, Pierre: Hundertwasser, Parkstone Press International: New York 2008, S. 73
Hundertwasser. Traumfänger einer schöneren Welt, Katalog zur Ausstellung im Kunstmuseum am Inselbahnhof, Lindau, 2019, S. 20-21
Hundertwasser, Katalog zur Ausstellung im nordiska akvarellmuseet, Skärhamn, 2021, S. 95 (Auszug, Schwedisch, Englisch)